Gedankenfluss -Wandeln zwischen Ego- und Ecobewusstsein
Blog | 1.12.2020 | Autorin: Marion Ibetsberger
Unlängst spazierte ich mit einer Freundin durch den herbstlichen Wienerwald. Bunt gefärbte Bäume säumten unseren Weg, Blätter raschelten unter unseren Füßen. Und während wir so schlenderten, fiel ihr Blick erfreut auf dieses gelb leuchtende Ahornblatt am Wegesrand, groß und satt in der Farbe, etwas ganz Besonderes!
Sie hob es auf, bewunderte es mit strahlenden Augen und nahm es mit. Sensibilisiert auf die Schönheit der Natur bemerkte sie: da liegt ja noch so ein Blatt. Und noch eins. Alle genauso schön, alle genauso bunt … alle genauso besonders?! Mit jedem neuen Blatt, das sie erblickte, schien die Freude über dieses Naturschauspiel aus ihrem Gesicht zu weichen. Und schon ein paar Schritte später, ließ sie das soeben noch bewunderte „schönste Ahornblatt von allen“ wortlos wieder zu Boden sinken.
Darauf angesprochen meinte sie achselzuckend, die Besonderheit dieses Blattes ist wohl durch das Erkennen, wie viele es davon gibt, verloren gegangen.
Damals eine nicht näher beleuchtete Miniepisode, wirkt es jetzt doch in mir nach. Ich merke, auch ich kenne derartige Gedanken. Auch ich kann sofort in ein Gefühl des „Geknickt-Seins“ einsteigen, wenn ich an Situationen denke, an denen sich mir gerade ein Stück der Welt neu eröffnet hat, nur um dann zu merken, dass mein Gedanke gar nicht so einzigartig war. Ja vielleicht sogar, dass ein erlebtes Phänomen bereits einen Namen hat und andere schon ganze Bücher darüber geschrieben haben.
Genau wie mit dem Blatt. Durch die eigene Sensibilisierung aufmerksam und wach erkennend, dass es viel mehr von demselben in der Welt gibt. Dass mehrere Menschen sich mit gleichen Gedanken auf den Weg gemacht haben. Gerade so, als wären wir alle im selben Wald spazieren und jedeR hat sein/ihr Blatt gefunden. Wir begreifen diese „unsere“ Blätter vielleicht als einzigartig, besonders, hätten vielleicht gerne, dass etwas von dem Glanz dieser Einzigartigkeit und Besonderheit auf uns abfärbt. Immerhin sind es ja „unsere Blätter“ … unsere Gedanken!
Und doch wirft diese (Selbst-)Erkenntnis Fragen auf. Wie kann es sein, dass offenbar ein menschlicher Impuls eher dazu verleitet, ein Blatt enttäuscht wieder fallen zu lassen, anstatt sich zu freuen, dass es ganz viele davon gibt? Wie tief ist der Wunsch nach Besonderheit und Anerkennung in uns verankert? Biologisch vielleicht erklärbar und doch paradox, sich um seiner selbst Willen weniger vom „Guten“ in der Welt zu wünschen?! Wie absurd, dass es ein Gefühl von Traurigkeit auslöst, wenn man entdeckt, dass es mehr von dem gibt, was Freude stiftet. Und da drängt es sich ins Bewusstsein: Achtung Egofalle!
Also gedanklich nochmal zurück an den Start, die Perspektive erweitert. Vom Blatt, das gefunden wurde hinausgezoomt … auf den Ast, an dem das Blatt einst hing, die Äste, die aus demselben Stamm hervorgehen, die Wurzeln des Baumes, die sich tief in der Erde mit anderen Bäumen und Leben verbinden. Ein ganzes Ökosystem entfaltet sich vor meinem inneren Auge. Ein ganzes Feld erschließt sich. Wie beschränkt, nahezu anmaßend, scheint es aus dieser Perspektive zu meinen, dieses eine am Waldboden „entdeckte Blatt“ wäre ein Produkt der „Entdeckerin“. Ist es nicht vielmehr so, dass dieses Ergebnis Produkt einer Summe von ineinander verwobenen Beiträgen eines ganzen Systems ist. Und welche Rolle spielt es in diesem Zusammenhang überhaupt, wer diese Blatt aufgreift, in die Sichtbarkeit bringt und so vielleicht auch für andere verfügbar macht? Ist es nicht viel wichtiger, dass es gemacht wurde?
Wie gerne begreifen wir jene, die Erkennen und Benennen als beachtenswerter als alle anderen Beiträge im System, die zu diesem Erkennen und Bennen geführt haben, es ermöglicht haben. EinE StürmerIn schießt vielleicht das Tor und doch baut er/sie auf eine Teamleistung auf. Auch hier ist die Kunst, aus einem Feldbewusstsein heraus zu handeln, den richtigen Moment der Ballabgabe zu erkennen und nicht aus einem Egobewusstsein heraus jeden Ball selbst ins Tor bringen zu müssen.
Die berühmte Rede von Martin Luther King beim Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit ging unter dem Titel „I have a dream“ in die Annalen der Geschichte ein. Und auch er war es nicht allein. Nebst der tragenden Menge von 250.000 Menschen ist es die zuvor aufgetretene Gospelsängerin Mahalia Jackson gewesen, die ihm aus der Menge zuruft: „Erzähl ihnen von deinem Traum, Martin!“, und damit den ausschlaggebenden Impuls für die ergreifenden Schlussworte liefert, die bis heute zitiert werden.
Wenn es uns also gelingt, uns als Teil eines größeren Feldes zu begreifen, wenn es uns gelingt, weniger aus dem Ego heraus, sondern aus einem Eco-Bewusstsein zu handeln: Wie lange können wir dann noch auf unseren Ideen, Gedanken, Beiträgen sitzen bleiben, bevor wir sie der Welt zur Verfügung stellen, damit sie jemand anderes weiterspinnt? Worauf richten wir dann unsere Aufmerksamkeit?
Was würde diese geänderte Sicht für Teams, Unternehmen, Netzwerke und letztlich Gesellschaft ermöglichen? Wie dürfen wir Führung neu denken?
Ich sehe lebendige Co-Kreation, Innovationspotenziale, gemeinsam erlebte Erfolge … und ganz bestimmt genug Anerkennung für alle, wenn wir uns erlauben, uns im gemeinsamen Feld verbunden und zugehörig zu fühlen.
Daran möchte ich mich beim nächsten Ego-Impuls erinnern.
Mehr Gedanken, Impulse finden Sie im Podcast Waldgeflüster, im Album und in den Blog-Beiträgen Gedankenfluss.